Samstag, 15. August 2009

Rocco Del Schlacko 2009 - Nachlese

In der Sonne sitzen und Bier trinken ist was für Leute, die schon Statistik bestanden haben - also musste ich meine 4-Tagesplanung kurzerhand in einen 1-Tagestrip umwandeln. Was relativ gut ging, denn alles, was ich sehen wollte spielte am Freitag des Rocco Del Schlacko.

Seit ich 2006 zum ersten Mal da war, wächst und gedeiht das saarländische Liebhaber-Festival trotz zwischenzeitlicher finanzieller Probleme sehr gut: Reichte damals noch ein gut gefüllter Campingplatz, füllt sich mittlerweile auch die ca. halb so große zweite Hälfte des Areals zügig. Ansonsten machen die Kleinen (wie so oft in verschiedenen Bereichen des Lebens) im Schnitt Weniges schlechter, aber Einiges besser als die Großen: Bezahlt wird in der eingetauschten Währung Roccocoins, was den Wechselwahnsinn an überfüllten Bierständen vermeidet (Marek Lieberberg schafft es bis heute nicht, so ein System anzubieten), die Preise sind moderat, Einlass in den vorderen Bühnenbereich funktioniert ohne Extraregeln, und wer gegen das Crowdsurfing-Verbot handelt, kriegt nicht gleich einen Gelände-Verweis. Auch Parken und Abfahren geht nachts trotz Hauptreisezeit sehr entspannt, beinhae staufrei konnte ich in 15 Minuten auschecken. Manches davon bringt die geringe Größe des Festivals (das trotzdem immer gute Namen auf dem Billing hat), insgesamt aber ist das Rocco aber recht gut organisiert.

Zur Stimmung: Ich werde alt. Nicht nur, weil ich langsam körperliche Wehwehchen bekomme - in meinem natürlichen Habitat, dem Musik-Festival, fühle ich mich als alter Sack. Mehrfach musste ich mich bremsen, um ein paar aufgeregte Teenies nicht mit Sprüchen a la "damals, als ich xy gesehen habe..." zu belegen. Denn auch das Rocco folgt dem Festivaltrend, der überall zu beobachten ist: Wachsende Publikumszahlen, sinkender Altersschnitt. So ist die Menge zwar nicht vollständig, aber doch mehrheitlich unterhalb der 20er Jahre, und ab und an kann man in das eine oder andere unpubertierte Gesicht blicken, das irgendwo in seinem Rucksack die Einverständniserklärung seiner Eltern haben muss.
Im Vergleich mit Southside oder gar Rock am Ring merkt man dem Rocco seinen Provinz-Status doch noch an: Viel lokales Volk, dass sich tough gibt, aber erstaunlich viele Camps sind ziemlich sauber, Flunkyball wird weit unterhalb der Leistungsgrenze gespielt, und auch gröhlende Zerstörung kam mir nur sehr wenig unter (seltsamerweise sind die Kids, deren Edding-bemalte, besonnenbrillte und antätowierte Körper sowie Mundwerke von Abriss-Party künden in meinen Augen verhältnismäßig lieb; ich sag ja, ich werde alt --> "Wir waren damals viel wilder").
Zwei Randnotizen noch: Saarländisch und Trierisch erscheinen mir ja so schon wie schlimmes Kauderwelsch - wenn dann aber untergebildete, besoffene Teenies damit anfangen, wird's einfach enorm unsexy (ich stell mir mit anhaltender kindlicher Freude Dialekte ja immernoch im Bett vor; "Ahjo, ahjooo, ahjooooo! - Isch han fertich"). Ich weiß auch nicht, ob es daran lag, dass mir fast keine Frau attraktiv erscheinen wollte, oder daran (--> Alter), dass Kids in der Geschmacksfindungsphase eben trotz dem ganzen H&M-Tand genau danach aussehen.

Nach kurzem Besuch bei Kollegen auf dem Zeltplatz für ein paar Fahrerbier geht's dann zu Muff Potter. Die haben vor Kurzem ihre Auflösung verkündet und spielen damit zu meiner Trauer eines ihrer letzten Konzerte. Das machen sie aber sehr gut, ich verpasse zwar die ersten beiden Stücke wegen den peniblen Einlasskontrollen, danach wird's aber fein: Hit an Hit, meist neueren Datums feuern die Potters ab, und nachdem ich im Wortsinne den Anstoß gebe, fängt auch schnell das Pogen an. Sogar ein wenig Crowdsurfing geht. (Dazu sei gesagt, dass das Verbot nach meinen Beobachtungen vor allem für zwei Dinge sorgt: Die, die crowdsurfen, können es nicht richtig, und die, die damit konfrontiert sind, können nicht damit umgehen. Aber das ist schwer subjektiv.) Am Ende "100 Kilo Herz" und ein zu kurzes, aber sehr entspanntes Konzert ist vorbei.

Danach Samy Deluxe. Das Rap-Urgestein (darf man das über zehn Jahre nach dem Boom langsam sagen?) fährt die beliebte "Rapper mit kompletter Band"-Schiene. Dann gibt es viel Neues, der Rap-Kahn hat Schlagseite Richtung Reggae, nur die Zugaben mit altem Material wie "Weck mich auf" knallen und rocken dann doch noch ganz gut. Irgendwie aber nicht mehr sehr zwingend, der gute Herr Deluxe.

Anti-Flag (die Unsitte, die Band "Anntih Fläg" auszusprechen - auch unter den Verlierern der Medienevolution, den Stage-Moderatoren, sehr beliebt - macht mich wahnsinnig) fahren ihr Standard-Programm: Das Herz schlägt links, es wird unglaublich viel in Richtung Publikum animiert und geschrien, und dazwischen tigern und springen die Beteiligten wie angestochen über die Bühne. Gefühlt ruft Justin Sane alle 30 Sekunden zum Circle-Pit auf. "Underground network" oder "Die for your government" kommen zwar knackig, aber irgendwie fühle ich mich für diese schlichte linke Musik-Agitation dann doch - zu alt. Wäre ich 12/14/16 und hätte noch nicht so viele Shows gesehen, wäre ich aber wohl schwer beeindruckt gewesen. Besser als bei der Rheinkultur waren sie aber.

An dieser Stelle noch das fällige Kompliment an das Schlacko-Publikum: ungeachtet des Alters (oder gerade deswegen?) ist die Menge bei jedem Künstler motiviert bis enthusiastisch, geht mit, oft können Leute mehr als den Refrain von dem einen großen Hit mitsingen. In so einer Menge macht es Spaß zu feiern (gerade im Vergleich zum verwöhnten und oft teilnahmslosen Großstadtpublikum anderswo). Nur rhythmisches Klatschen sollte auch hier - wie in jeder bundesdeutschen Grundschule - dringend mal als Pflichtfach eingeführt werden.

Rise Against schlagen mit ihrem politischen Punk natürlich in eine ähnliche Kerbe wie ihre Bühnen-Vorgänger. Allerdings fahren sie das Ganze etwas weniger penetrant, eine schlichte, motivierte Show, die von der Musik liebt. Glücklicherweise können Rise Against sich das leisten, die Hits von "The Suffer & The Witness" und "Siren Song Of The Counter Culture" stehen wie eine Eins. Nur der Spound hätte etwas druckvoller sein können.

Ein Problem, das Deichkind nicht haben. Hier wummert und brummt es defitg aus den Boxen. Auf ein vor die Bühne gehängtes Banner projezieren die Nordlichter einen ewig langen Einmarschfilm - Tension and Suspense, wie mein Englischlehrer wissend erwähnt hätte. Dann folgt der Traum eines jeden kleinen Jungen (oder kleinen Jungen im großen Jungen): Trampoline und eine Schnaps-Bong mit diveren Schläuchen, mit dem Schlauchboot über die Menge fahren, trashige Müllsack-Neonkleidung und -farbe, Konfetti-Kanonen, Kissenschlachten, blinkende Pyramid-Hüte, Menschen mit Tiermasken, und am Ende zwei riesige Hüpfburgen. Dazu gibt es die Knaller von zwei gefeierten Alben. Bei "Luftbahn" erweisen ein an einem Stock aus alter Deichkind-Bühnenkleidung hergestellter Fetisch und ein im Totenkostüm steckender Helfer (neben den verbliebenen drei Stammmitgliedern sind vier kostümierte Mittänzer und -helfer im Dauereinsatz) dem kürzlich an einem Schlaganfall verstorbenen Deichkind-Mitglied und -produzent Sebastian Hackert die Ehre. "Das schlimmste ist jetzt hinter dir" heißt es an einer Stelle im Song. Nicht nur wegen diesem Song und der Songauswahl insgesamt (Deichkind spielen auch weniger krachige und bekannte Songs wie "Urlaub vom Urlaub" oder "Papillon") habe ich den EIndruck, dass die ganz große Abfahrt mit dem Tod des Freundes zu Ende sein könnte; möglich, das Deichkind nach ihren letzten geplanten Auftritten das Handtuch werfen oder in anderer Form als jetzt weiterexistieren. Trotzdem brennt am Ende bei "Hört ihr die Signale", dem unvermeidlichen "Yippie Yippie Yeah" und dem Schlussakt "Limit" das Haus, wer jetzt nicht tanzt, ist doof (wie der Typ vor mir, der von einigen ausufernden Tänzern neben mir ständig angerempelt wird und sichtlich aggressiv ist - kann ja keiner ahnen, dass nicht alle auf diese Musik ganz vorne stillstehen wollen), und ich möchte mir nichts nachsagen lassen.

So kann ich sagen: Ein feines festival, nur etwas kurz. Aber The Kilians, M.I.A. oder Farin Urlaub am Samstag sind nun wirklich kein guter Grund, durch Statistik zu fallen. Und für durchfallen bin ich auch schon - zu alt.

Trackback URL:
https://diegestundetezeit.twoday.net/stories/5878758/modTrackback

Marie (Gast) - 18. Aug, 17:35

Hm, apropos zu alt, DU wurdest immerhin nicht gesiezt. Mir passiert bei Rock im Park, ich war gerade aufgestanden, aber trotzdem, wie unfassbar alt muss man aussehen, dass man auf einem FESTIVAL gesiezt wird?

DeDe - 20. Aug, 15:02

"Entschuldigen Sie bitte meine Unachtsamkeit, ich habe versehentlich Ihr Zelt angebrochen." - schöne Vorstellung!

...gedacht...
...gefunden...
...gehört...
...gelebt...
...gelesen...
...gesehen...
1000 Songs
Madrid 2007-2008
Netzwerkseminar (closed)
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren