Dienstag, 25. September 2007

Szenen. Beobachtungen. II

Im Grunde sieht er aus wie die gleiche Sorte Hipster/Szenegänger/Pseudo-Model-Verschnitt, die man auch in jeder beliebigen Großstadtfußgängerzone anspucken kann: weißes Oberhemd (nicht von Mutti! Mit Goldschriftzug) auf brauner und haarloser Brust, etwas weitere Jeans mit allerlei unnötigen Aplikationen wie Nähten, aufgesetzen Taschen und ähnlichem Firlefanz, Goldkettchen und die Art riesige Sonnenbrille, die neben ihm aktuell Millionen weitere Menschen als Kleingeister outet. Ein End-Teenie oder Anfangzwanziger mit Hauptstadtallüren und Profilneurosen, gestriegelt wie ein Pudel und dabei genau so albern in seiner lächerlichen H&M-Mondänität, die immer ein wenig zu weiblich daherkommt. Es stimmt also jedes Detail an diesem Exemplar urbaner Degeneration, nur eines ist, wenn doch vielleicht nicht rein spanisch, sondern Haupt- oder Großstädisch und damit Madrid-speziell, anders: Er krönt sein "Out-fit" mit einem prachtvollen Vokuhila. Nicht den 80er Jahre Deutschland Altherren-Vokuhila mit Schnauzbart, nein, den 200Xer David Beckham-Metrosex-Vokuhila, frisiert von Gerôme oder Yassin im nächstbesten In-Salon, mit angefärbten Spitzen, gern auch zum (angedeuteten) Iro gegelt. Dabei könnte nichts, gerade in Verbindung mit seinem restlichen Äußeren, idiotischer Aussehen. Er ist nicht allein.

***

Sie sitzt auf der Couch und hält die Schlüssel in einer kleinen Plastiktüte auf ihrem Schoß. Die Schlüssel die mich noch von einem neuen Zuhause trennen, nach dem ich nunmehr eine Woche lang gesucht habe. Heute etwas finden wäre perfekt, ich hätte kein Geld verschwendet, wäre trotzdem nicht ab morgen obdachlos (das Hostel ist am folgenden Samstag hoffnungslos ausgebucht). Doch sie gibt sie mir nicht. Sie redet. Sagt, ich solle mich hinsetzen, mich beruhigen. Ich werfe ihr hilflose Floskeln und Aufforderungen entgegen, die den Prozess der Wohnungsübergabe einleiten sollen. Sie reagiert, um sofort wieder abzuschweifen, zu schwadronieren, mir Belanglosigkeiten fünfmal zu wiederholen ohne dass ich sie verstehe oder verstehen müsste. So ging das schon morgens beim Besichtigungstermin.
Nach einer Stunde hilfloser Unproduktivität bin ich mürbe, rufe Marie an, Finanzielles möchte ich nicht wage klären, und manches verstehe ich einfach nicht, teils, wei les sich als ungewöhnlich und umständlich herausstellen soll, teils, weil die alte Frau, die meine Vermieterin werden soll, eine äußerst spanische Angewohnheit zur Meisterschaft gebracht hat: Auf gezielte Fragen, vor allem solche nach Ja oder Nein, wird nie direkt geantwortet. Stattdessen wird abgewogen, erklärt, ausgebreitet, schwadroniert, abgeschwiffen. Was im Smalltalk unterhaltsam sein mag, ist ohne Sprachkenntnis, mit starken Dehydrierungskopfschmerzen, müden Beinen und an der Grenze aus der Heimatlosigkeit eine Tortur. Nach gut zweieinhalb Stunden quälenden Wechsels zwischen kurzem Informationsaustausch und langen Monologen halte ich ein paar Schlüssel in der Hand und verlasse mit Marie fluchtartig die Wohnung, die nun mein Zuhause ist.

***

15 Uhr, schnell mal was kopieren. Wenige Meter hinter der Haustür stocke ich. Die heruntergelassenen Rollläden an sämtlichen Geschäften erinnern mich: In Spanien ist die Siesta mehr als nur ein altes Klischee.

Trackback URL:
https://diegestundetezeit.twoday.net/stories/4290378/modTrackback

0700fabsen00 - 25. Sep, 10:03

Da kann ich Dich beruhigen, für blondierte Vokuhilairos hätts nich der Süden und Madrid sein müssen, eigentlich nichtmal eine ernsthafte Großstadt. Aber gut, mit Trier als vergleich..
Das Trauerspiel bot sich mir schon Anfang des Jahres auf meiner Bayerrundfahrt in europäischen Modeurbanitäten wie Bayreuth, Bamberg oder Würzburg. Gerne auch mit Hosenträgern kombiniert.

DeDe - 25. Sep, 14:57

Ah, ich bin beruhigt, ich hatte schon befürchtet, hier nehme gerade ein Trend seinen Anfang. Wenn der aber schon in vollem Gange sein sollte, werde ich damit ja in Kürze schon nicht mehr gequält. Nur warum hat man die dusseligste aller möglcihen Frisuren (oder zumidest eine der schlimmsten) ausgegraben?
Zum Horizont (Gast) - 28. Sep, 17:42

Das habe ich mir hierzulande auch schon gefragt... Irgendwer hat da ganz Europa was furchtbares angetan.


...gedacht...
...gefunden...
...gehört...
...gelebt...
...gelesen...
...gesehen...
1000 Songs
Madrid 2007-2008
Netzwerkseminar (closed)
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren