Sonntag, 13. Mai 2007

Casper

"Everybody knows somebody dead / That should be alive"

- Mother Tongue, Casper

An diesem Morgen schmeckte die Milch angebrannt. Es war der Morgen, an dem meine Mutter von P.'s Tod erfuhr. Irgendwann konnte sie es nicht mehr zurückhalten und brach in Tränen aus. "P. ist tot" sagte sie nur, und ich begriff wenig. Nicht, dass die Babysitterin, die öfter auf mich und meinen Bruder aufgepasst hatte, nicht mehr kommen würde. Nicht, dass meine Mutter jemanden verloren hatte, um den sie sich lange gekümmert hatte. Nur, dass die Milch angebrannt schmeckte an diesem Morgen.

***

Ich sehe uns noch manchmal die Straße entlanggehen, etwa drei Kreuzungen entfernt von unserem Haus, ganz nahe bei Bäcker Schulze, wo wir Süßigkeiten kauften, und den es heute schon lange nicht mehr gibt. Wir waren drei oder vier Jungs, aber ich weiß nur noch seinen Namen, S.. Es war früher Abend, Herbst vielleicht, und S. sang ein pubertäres Lied, angelehnt an ein Laternenlied: "Ich geh mit meiner Laterne, und meine Laterne mit mir, dort oben bumsen die Sterne, und unten bumsen wir. Mein Sack ist leer, ich kann nicht mehr, rapimmel, rapammel, rapumm." Wir waren 11 oder 12 und keiner von uns hatte im Ansatz mit Sex zutun gehabt. Mir war es schrecklich peinlich, ich war noch sehr schüchtern, und hatte das Gefühl, jeden Moment müsste jemand auf die Straßen stürmen und uns zurechtweisen. Aber S. sang in endloser Wiederholung das kleine Lied.
Zwei Jahre später warf ich eine kleine handvoll Sand auf einen dunkelbraunen Sarg. Es war ein Autounfall, wie er jeden Tag passiert.

***

Ich war zu feige und habe nicht gefragt. Ich kannte die Geschichten nur aus der Erzählung meiner Mutter: Westfront, Ostfront, russisches Gefangenenlager, Flucht, amerikanisches Gefangenenlager. Nie habe ich ihn über diese Zeit reden hören, auch, wenn es dazu wohl nur wenig Momente gegeben hätte. Mein Onkel, der sich schon lange vorher mit ihm überworfen hatte, hatte einmal erzählt, dass er nach dem Krieg ein anderer gewesen sei, gebrochen vielleicht. Tatsächlich habe ich den Choleriker aus den Geschichten meiner Mutter nie erlebt. Ich weiß nicht, ob er glücklich gewesen ist. Ich weiß nicht, was er gedacht hat, wie er die Welt gesehen hat. Ich habe ja nie gefragt. Mit ihm ist auch ein kleines Stück meiner eigenen Geschichte gegangen. Die Krankheit war schon fortgeschritten, es war absehbar, und kam dann doch überraschend. Meine Mutter sagte, sie habe ihn noch gesehen, er habe ganz friedlich da gelegen. Ich wäre gern bei ihr gewesen. Ich war nicht bei ihr. Und ich habe einfach nie gefragt.

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