Dienstag, 27. Februar 2007

Der Scout, mein Amigo

Mit ungefähr 6 oder 7 Jahren wurde für den modernen Heranwachsenden meiner Generation und ländlichen Herkunft eine Frage plötzlich von eklatanter Wichtigkeit: Scout oder Amigo? Denn mit der Wahl des richtigen Schulranzens (unter Eltern damals auch noch oft Tornister genannt) steht und fällt ja bekanntlich bereits und gerade in der ersten Klasse die Roheinordnung in Sachen Clique und Hackordnung. scout2Wer da von den beiden In-Marken des Moments auf Alternativen wie McNeill oder noch schlimmer no-name-Produkte oder Mamas Jutebeutel abwich, war schnell sozial via Gruppendynamik geächtet, wurde mit Popeln beworfen und musste fortan in der Pause bei den Kindern mit den dicken Bäuchen und Hornbrillen stehen. Wer nicht zum Ausgleich über ordentlich Körperkraft, Mut oder eine Riesenklappe verfügte, hatte meist gute Chancen, das erworbene Deppen-Image erst mit dem regelmäßigen Trendwandel wieder loszuwerden. Ein schönes Beispiel für die Mechanismen, die Schüler später in der Pubertät gleichermaßen zur Rebellion zwingen und sie gleichzeitig so schwer machen. In der Grundschule führt gegen-den-Strom-schwimmen aber ohnehin nur in den allerwenigsten Ausnahmefällen zu Anerkennung, eher hagelt es Desinteresse und einen saftigen Schlag in die Magenkuhle von Kevin aus der 4a.

Da mir all das mehr oder (vermutlich eher) weniger bewusst war, überlegte auch ich, welcher Ranzen es sein sollte. Wesentliche Unterschiede bestanden in der Form: Der Standard-Amigo erinnerte von der Form her eher an die klassischen Lederranzen, nur noch wesentlich breiter und massiger. Die Kinder sahen auf der Straße damit aus, als würde sich aus ihrem Rücken ein überdimensionaler Breitmaulfrosch den Weg in die Freiheit erkämpfen.cf29_1
Der Scout war im Gegensatz dazu ein Vorbild an Purismus: extrem rechteckig (DIN-genormt!) und nur mit einem minimum an Kanten wirkte er wie der Traum eines Bauhaus-Designers. Die beiden Schnappverschlüsse hatten rote Reflektoren, die mit dem Reflektionsstreifen zusammen an ein Gesicht erinnerten. Da Kinder wenige Kanten haben, sah er immer ein wenig Fremdkörper-artig an ihnen aus. Ohnehin offenbar ein Grundgesetz von Schulranzen: sie dürfen auf keinen Fall so aussehen, als ob sie an das jeweilige Kind gehörten. Noch heute wundere ich mich über Zwerge, die einen Rucksack von ihrer eigenen Größe mit annähernd dem selben gewicht zu stemmen scheinen und trotzdem nicht nach hinten fallen. Möglicherweise ein Trick von Eltern um einerseits nur alle Jubeljahre einen Ranzen kaufen zu müssen und andererseits das Kind für alle gut sichtbar als Schüler zu markieren. "Sehen sie den laufenden Schulranzen, Frau Hansen? Da dran ist irgendwo meine Annika." Oder so ähnlich.

Obwohl ich aus nicht repräsentativen Umfragen im Freundeskreis wusste, dass Amigo wohl in dieser Saison deutlich vorn liegen würde, verliebte ich mich in einen Traum aus blauem Kunststoff mit wässrig roter Front mit weißem Reflektionsstreifen von Scout (das Foto zeigt ein gleiches Modell in anderen Farben). scoutDas Schild wies ihn übrigens als "Der echte Scout" aus, und das muss ein Kind ja wohl beeindrucken. Ich trug ihn im Laden und auch zuhause Probe und war glücklich und stolz wie Bolle über das Teil.

Das änderte sich mit Einschulung und der ersten Zeit in der Schule. Die bedrückende Übermacht an Amigos war für mich Grund genug in eine tiefe Schüchternheit zu stürzen. Zwar hatte ich mit Scout als Nr.2 auf der Coolness-Skala meist Ruhe vor Sticheleien, aber nicht den offenbar besten (und der Zusammenhang "Die Meisten kaufen es = es ist das Beste" erschien mir damals enorm logisch) Schulranzen gewählt zu haben, wurmte mich sehr. In der Orientierungsstufe wurde ich dann meinem Scout untreu, weil meine Mutter beschloss, er wäre zu kaputt und ich könnte zum Schulwechsel einen neuen haben. Ich wählte einen braun-schwarzen Amigo, der heute wohl als "Vintage-Look" durchgehen würde, und war zufrieden.

Rückblickend weiß ich aber heute: Der Scout war schon ein verdammt cooler Schulranzen! Hätte ich das damals mit selbem Enthusiasmus gewusst, die Kinder aus meiner Umgebung hätten ihre Eltern angefleht, auch einen bekommen zu können! Einmal noch gab es ein Wiedersehen mit genau meinem Schulranzen: In der Oberstufe entdeckte ich einen Freak, der nach dem Aussehen des Ranzens nach offenbar seit der ersten Klasse exakt meinen Scout getragen hatte, das selbe gleiche selbe blau. In der 12. Klasse natürlich eine enorm coole Nummer, echt rebellisch und individuell und so.

Auch vom Namen her war der Scout in meinen Augen vorne: Scout, "Aufklärer", der der vor allen Anderen da ist, der Forscher, der Aufdecker. Da kam der Amigo mit seiner Freundschaft-durch-dick-und-dünn-Nummer nicht mit. Wo genau die dann wieder ins Spiel kam, war die aufkommende Pubertät. Da bekam plötzlich nämlich der Amigo final von seiner Verwandten Konkurrenz: Amiga. Wer nicht auf eine Freundin aus Fleisch und Blut zurückgreifen konnte, zog sich zuhause mit dem Amiga zurück und hatte ebenfalls Spaß. In diesem Fall passend: Amiga zuhause zum wohlfühlen, zum zurückziehen, zum trösten, wenn alles mies läuft und den Amigo für mitten im Leben, auf der Straße und in der (Lebens-)Schule, als Kumpel und Weggefährte. Und in der Erinnerung den ersten Scout.

Im Bus

Hinter mir sitzen zwei Jungs um die 17, ein prägnanter Straßeneinschlag in der Sprache, nicht Skater-, aber Straßenlook, Flecktarnhose und Basecap. Einige Gesprächsfetzen: "...der übertreibt es echt, da sind jeden Tag 10 bis 15 Leute in der Wohnung, der feiert einfach zu viel. Ich feier auch gerne, aber das ist echt zu viel, da hab ich kein Bock drauf. Außerdem muss ich arbeiten, verstehste, da kann ich nicht jeden Abend feiern... ich kann auch nicht soviel Geld da verballern, dann bleibt ja nix mehr... und das Kiffen macht nunmal echt langsam, kann mir keiner was erzähln, der sollte neulich was lesen und dann so drei Sätze und dann 'äh, äh, ähhhhh', einfach weich im Kopf...".

Geht doch. Nicht jeden Satz "Ayo" angefangen und mit "Alter, ey" beendet. Vernünftige Gedanken in angemessener Sprache, trotz erkennbarer Ghetto-Herkunft. Hätte ihm beim Aussteigen fast auf die Schulter geklopft.

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1000 Songs
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