Montag, 12. Juni 2006

Tag 4 (SO)

Nach einem zu kurzen, traumlosen Schlaf macht sich morgens ein akuter Anfall von Kater in meinem Kopf breit, ich wäge ab und wähle Frontalangriff mittels Mixery. Das Aufstehen zieht sich heute besonders lang hin, ich verzichte nun auch auf Feldwäsche, lege einfach nur Deo auf und bedecke die peinliche Haarpracht mit dem Festival-erprobten Jägermeisterhut. Es ist schon recht warm und wir erigieren erstmal den Pavillon wieder, den wir gestern gegen Ende des Gelages wegen Wegflug-Gefahr abgenommen haben. Was dann da steht, sieht aber (ohne Heringe und bei saftigem Wind) wenig vertrauenserweckend aus... und so kommt, was kommen muss: Ein Windstoß packt sich unseren angeschlagenen Zelttitan und schickt ihn gepflegt auf die Bretter, einfacher: Er schmeißt ihn um. Mein Versuch was festzuhalten ist kurz, dann verbiegen beim wiederaufstellen 2 Stangen und wir beerdigen den verkrüppelten Planenkoloss neben unseren Zelten.
Nebenan sind auch bereits die 3 Pavillons wie von Geisterhand verschwunden. Ich frage Madita nach ihrer Meinung zum Turbo-Gig und sie zeigt sich wenig begeistert.

Das Camp sieht mittlerweile aus wie eine Handgranaten-Explosion im Baumarkt/Supermarkt, ich sitze mit sonnenbedingt tief ins Gesicht gezogenem Jägihut mittendrin, die Mädels gehen zu Möwis Auto, um Frühstück zu holen. So sitzen wir eine Weile relativ sediert in unseren Campingstühlen, bis ich mit wenig Bier wieder den Pegel hab und Aktionismus walten lasse: Aufspringen und mit einer Pavillonstange auf ein leeres Bierfass eindreschen ist eine Aggressionsabfuhr erster Klasse! Und da wir ja schon den Pavillon nicht mit zurücknehmen müssen, beschließe ich, unser Reisegepäck noch um den ohnehin schon kurz vor dem Auseinanderfallen stehenden Grill zu erleichtern: Ein paar gezielte Schläge mitten drauf erledigen ihn und dann liegt er, die Beine grotesk verbogen und zerbeult, vor mir, ich keuchend, grinsend und hoch zufrieden mit meinem Werk. Dieser Spaß ist anstrengend und Bo ergeift ebenfalls einen Schläger, um die übrigen leeren Bierfässer zu zerlegen. Die Mädels kommen zurück und Swaantje meint, sie habe "überlegt: Wer sind denn die beiden Idioten die da auf die Bierf... auch da gehöre ich ja zu!". Dann noch ein spektakulärer Zweikampf zwischen mir und Bo im Star Wars/Highlanderstil, den Bo mit einem blauen Daumen von mir klar für sich entscheidet. Mit Wanderstock gehts gegen 17 30 Uhr mit Helge und Bo langsam (nein: sehr langsam) Richtung Alternastage. Die Mädels, Jan und Roman waren motivierter und sind bereits vor 1,5 Stunden zu den Kaiser Chiefs aufgebrochen. Am Weg werden wir Zeuge einer Mäusebeerdigung, nicht nur wir haben also mittlerweile einen veritablen Schatten bzw. Lagerkoller.

An der Alterna liegen gerade Juliette & The Licks in den letzten Zügen. Die bekanntermaßen etwas durchgeknallte Schauspielerin Juliette Lewis macht ihre Sache ganz gut und füllt die Songs zwischen Punk und Rock mit rauem, kämpferischen Charme. Dann geht sie am Ende Stagediven, und zwar richtig 5 Meter in die Menge, nicht dieses Alibi-ich-hüpfe-als-Star-auf-die-Hände-der-ersten-Reihe-Diven, das ist schon cool. Wir liegen alle auf den warmen Steinen der Rennstrecke, chillen und tanken Kraft für später. Das heute nicht viel gepogt und vorne gestanden wird, ist hier bereits klar.

Ich will was essen (dieses Bedürfnis wird sich heute durch den Tag ziehen) und gehe zum Pommes stand. Wegen Komplett-Verstrahlung drängele ich mich unabsichtlich vor und werde von einem 40 jährigen verbal gefaltet. Wie uncool manche Alt-Rocker sind...

Nach dieser Stärkung gehen wir rüber zur Center zu Franz Ferdinand. Auch in 200 Meter Entfernung macht die Band noch Spaß. Alle wichtigen Songs kommen, als letztes das von mir hochgeschätzte "This Fire". Die Band hat Lust und das sieht man, vorne scheints gut abzugehen und der Bassist... oder wars der Gitarrist? Na, jedenfalls der, der in München Kontrabaß studiert hat, plappert gutes Deutsch daher und stellt den Sänger als den, "der so herzzerreissend schön singt" vor. Ist schon ne coole Show, aber heute bin ich tendenziell eher unrockbar, weil bleiern schwer von Ring, Alk und Zelt. Und Franz Ferdinand sind mir heute auch einfach ne Nummer zu trendy...

Das trendy mich nicht prinzipiell stört, zeigt der Gig von Placebo. Ich meine, wer mit der Ansage "We are the Ladies and Gentlemen of Placebo" sein Publikum begrüßt, hat einfach gewonnen! Brian Molko könnte direkt von einer hippen Designer-Party aus Nizza kommen, so sehr aus dem Ei gepellt ist er; knappes edles Jackett, große Sonnenbrille, alles in schwarz natürlich. Oh, was dieser Mann an Stil und Ausstrahlung hat, grandios. Los gehts mit "Infra-Red", neu und nächste Single... und jetzt alle: "Someone call the Ambulance!" Molko singt gewohnt gut ud mit viel Gefühl, die ersten 5,6 Songs sind neu, dann mit "Special Needs" ein alter Bekannte, der von den Fans freudig begrüßt wird. "Song to say Goodbye" lässt mich auch live an das wunderschöne, aber traurige Video denken, und ist einfach fantastisch gespielt, gegen Ende mit einer nuancenhaft veränderten Gitarre. Überhaupt sind die Songs von Placebo live (verstärkt um Keyborder und 2. Gitarristen) noch besser, weil minimal verändert, aufgepeppt, abgewandelt... es klingt immer 130% so gut wie auf Platte. Vielleicht macht das eine gute Liveband aus, denn Show brauchen Placebo nicht, nur ihre berührenden Songs. "Every you and every me" fertigt die Eiskalte-Engel-Mädchen ab (ist natürlich trotzdem ein Top Song), dann die bekannten Highlights, nämlich "Bitter End" (der BURNER! Immer!) und "Twenty Years" (einer ihrer besten Songs ever) und zum Abschluss "Special K" und das frühe "Nancy Boy". Das sie weder "The Crawl" noch "Without you I'm nothing" vom gleichnamigen brillianten Album spielen, ist Schade, aber es war zu erwarten. Egal, noch besser und der Auftritt hätte Herzinfarkt-auslösendes Potential gehabt.

Bo, der sich bereits vorher ausdauernd nach Merchandising umgesehen hat, kauft sich schließlich einen Pulli, weil die angepeilte Jacke vergriffen scheint. Als Helge ihn fragt, warum er einen ohne bands auf dem Rücken nur mit dem Ring-Logo genomen hat, zieht er ihn aus, sieht ihn an und bringt ihn zurück. Aber ihm war 5 Minuten gratis warm, wie er uns triumphierend erklärt.

Wärmer könnte es sein, aber vielleicht sorgt dafür ja der Headliner Depeche Mode. 100000 sind bestimmt anwesend, als Dave Gahan, Martin Gore und Co die Bühne betreten. Depeche Mode folgen dem Tool'schen Beispiel und werden nicht vernünftig gefilmt, sondern nur mit Verzerrereffekten, Blitzschnitten und in schwarzweiß und schemenhaft auf die Monitore gebracht... wer da steht, wo wir stehen, weiß, dass da irgendwo Depeche Mode sind, aber sehen kann ers nicht. Das gibt schonmal Minus, Atmosphäre und Kunst hin oder her, wenn ich gar nix sehe, kann ich mir auch ein Livealbum kaufen... Den ersten Song kenne ich nicht, ist so lala. Den zweiten Song... kenne ich nicht, ist so lala! Was ist denn hier los? Dave Gahan kommt auch nicht wie der Wahnsinns-Frontmann rüber, als der er immer gepriesen wird, sondern eher arrogant und uncharismatisch. Dritter Song. Unbekannt. Durchschnitt... damit ist das Ding für mich durch, ich friere nicht ohne die Perspektive, das sich das hier lohnt. Wir machen uns vom Acker und ich werde später mit Blick auf die Playlist feststellen, dass ich bis auf 3 Songs ("Personal Jesus", "Enjoy the Silence" und "Never let me down again") auf das Set verzichten kann. Auf dem Rückweg kriegt Bo dann vor dem Haupteingang am letzten möglichen Stand doch noch seine Ring-Jacke und alles ist gut.

Am Zeltplatz sitzen bereits die anderen am Grill-Lagerfeuer und wärmen sich auf. Wieder wird gegenseitig berichtet und Depeche Mode haut hier wohl keinen um. Jan und Roman gehen später noch zu Bela B., wir sitzen ruhig und kuschelig im Kreis, alle Anspannung ist verschwunden, die Stimmmung ist mild... es ist dieser besondere Moment, wenn das Festival bereits für einen vorbei ist, man aber noch mitten drin steckt. Nach 1,5 Stunden kommen Jan und Roman wieder, Bela B. war so lala und wir entspannen mit unseren Alkoholresten. Ich entscheide, den Whiskey nicht mehr anzubrechen und beim ausführlichen resümieren kriegen wir noch Besuch von einem verinesamten Turbocamper von nebenan. Erstes vermissen setzt bei mir ein, der Unterstand mit der Maiden-Mucke, die Dixie-Zeile, der Wald, unser Lager... das wächst einem auf eine ambivalente Art doch ans Herz. Back to nature, ein wenig zumindest, man merkt, das man lebt. Stück für Stück perlen unsere Leute in die Zelte, am Ende sitzen ich und Bo am Grill-Feuer und verbrennen Servietten, Pappkartons (was eine tolle Stichflamme gibt) und anderen Kram, womit wir schon vorher begonnen haben... Unsinn halt. Dann wirds auch uns zu blöd und es geht schlafen.

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