Samstag, 27. Januar 2007

Nach dem Feindbild

Gute eineinhalb Jahre ist es her, dass ich Satan gesehen habe. Am 02.07.2005 um genau zu sein. Ein Auftritt mit meiner Metal-Band, namentlich Serpents Gate, führte mich in einen unserer Nachbarorte, Lehmke, wo wir beim 9. "Rock im Bad"-Festival als Eröffnungsact spielen sollten. Beim Aufbau wurde ich auf einen deutlich als Plattenfirmenmenschen identifizierbaren Typen aufmerksam, der ohne erkennbare Funktion auf der Bühne und in deren Umgebung herumtigerte. Fragezeichen stiegen aus meinem Kopf auf, ich kümmerte mich aber nicht weiter darum.

Wir absolvierten unseren Auftritt, der mangels Publikumsmassen zur öffentlichen Probe geriet. Abgesehen von unseren Bekannten gab es vor der Bühne noch ein paar 10-Jährige mit Bandanas, von denen sich einer einen H&M-Nietengürtel quer über die Brust geschnallt hatte. Sie hüpften begeistert auf und ab, während wir auf der Bühne Iron Maiden und Judas Priest lebendig machten. Nach dem Auftritt mussten wir den Zwergen sogar Autogramme geben, was mir bis heute völlig absurd erscheint. Möglicherweise war ich unbemerkt Rockstar geworden. Vielleicht mag es aber auch am Erfahrungshorizont der Halbwüchsigen gelegen haben, die unsere Relevanz aufgrund unserer Anwesenheit auf einer Bühne völlig falsch einschätzten.

Der Veranstalter verkündete, dass die junge Magdeburger Band, die als nächstes spielen sollte, sich verspätete und zunächst die lokale Hardrock-Cover-Combo Taste Green spielen würde. Da ich parallel Praktikant bei unserer Lokalzeitung war, wusste ich, dass es sich bei der jungen Magdeburger Band um eine Truppe namens Tokio Hotel handelte. Zumindest neuerdings, denn als ich die Ankündigung für den Event geschrieben hatte, hießen sie laut Presseinfo noch Schrei!, so wie ihr kommendes Album. Ob die Namensänderung rechtliche oder ästhetische Gründe hatte, weiß ich heute nicht mehr genau...
Wir hatten uns im Vorfeld ziemlich das Maul über die Band zerrissen, über die wir im Grunde nichts wussten, da sie auf unseren popeligen Sport-Flughafen eingeflogen wurden, hatten sie doch angeblich vorher noch einen Auftritt auf der Mdr-Bühne in Magdeburg. Das Gerücht, man würde sie per Limousinen-Service von dort zum Auftritt fahren, setzte dem ganzen in unseren Augen die Krone auf. Wahrscheinlich waren wir schlicht neidisch, dass sie nichtmal ihr Equipement allein aufbauen mussten. Jedenfalls lief schon damals die Marketing-Maschine auf Hochtouren.

Als sie ankamen, gingen sie direkt auf die Bühne, begrüßten ihre mitgereisten Mädchen und Jungs (vermutlich aus der unteren Stufe ihrer Schule) und rockten los. Oder versuchten es. Denn damals klang das alles ziemlich ausnahmslos: Scheiße. Songs schlecht, Band so lala, Stimmchen dünn. Wer auch immer mit durch diesen Monsun musste, er blieb kläglich im Sound-Matsch stecken. Den Mitreise-Zwergen wars egal, es wurde gehüpft, gesungen und angehimmelt.

Im Anschluss an das Konzert badeten zumindest Bill und Tom in der Menge, mussten Fotos und Bussis verteilen und Autogramme schreiben. Einige Mädchen brachen heulend zusammen, andere fotografierten nach überwundenen Tränen 20 Minuten lang (!!!) die Autogramme auf ihren zierlichen Ärmchen. Ich kam mir - vielleicht zurecht - vor, wie bei einem Boygroup-Konzert.
Und irgendwann sprach ich unserem Giarristen gegenüber, den das alles ähnlich irritierte, die magischen Worte: "Ich verstehe zwar nicht, warum der Scheiß ankommt, aber die sehen wir bald mal in der Bravo wieder." Vier Wochen später kam die Single und die Band explodierte.

Was habe ich seitdem auf die Band geschimpft und geflucht. Nichtmal wirklich aus Neid, denn diese Art Ruhm möchte ich dann doch nicht. Eher aus Unverständniss oder Frust, dass dermaßen kalkulierte, fast mathematisch zurechtgeformte Musik funktioniert. Seelenlos, aber nützlich. Es war leicht, mit einem spontanen Ausruf der Missbilligung beim laufen der Musik mit der halben Welt ins Gespräch zu kommen. Auch das macht den Erfolg der Band aus: Sie sind leicht zu hassen. Und dadurch für alle anderen noch einfacher zu lieben, die "wenn ihr die nicht mögt haltet doch die Klappe, ich find die super"-Trotzreaktion ist bekannt.

Aber mit der Zeit ist mir das Gefühl abhanden gekommen, was an der Band und ihrer Musik eigentlich so schlimm ist. Sicher, Bill sieht heute mehr denn je nach Manga-Mädchen aus, die Musik ist durchgeplant und das Phänomen Tokio Hotel wird von der Industrie dankbar und bis zum Exzess abgemolken, die Fans sind meist hysterische Kinder, aber: Alles nicht neu, alles bereits tausendmal gesehen. Was war überhaupt passiert, das einigermaßen erwachsenen Menschen bei der Erwähnung des Namens die Faust zuckte? Objektiv ist da eine Band, die jung ist, moderne Rockmusik mit deutschen Texten spielt (auch wenn sie davon wohl kaum etwas selbst geschrieben haben) und ihren Erfolg genießt. Ich kann die kleinen Mädchen verstehen, die zu den Konzerten rennen, denn für sie ist das die perfekte Gebrauchsmusik, gemacht von Jungs, die vom Alter her in ihrer Nähe sind, greifbar und gleichsam unerreichbar. Das verstärkt die Emotionen nochmal.

Ich selbst will mit dem Flohmarkt-Rock von Tokio Hotel nach wie vor so wenig zutun haben, wie vorher. Da kann der Mond noch so silbern und der Juli noch so nah sein, das wird nicht mehr meine Musik. Aber heute stehe ich hier und stelle fest: Satan has left the Tokio Hotel. Mich kratzt das alles nicht mehr, sollen die sich doch dumm und dämlich verdienen, mit mir hat das überhaupt nichts zutun. Ich habe Augen zum weggucken, Ohren zum zuhalten und eine Fernbedienung zum wegschalten. Ja, Leute: Ich brauche ein neues Feindbild.

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